Mythisches Wrocław – Teil 1.

Data aktualizacji: 2016-10-18

Oft sagt man „ Wrocław habe eine 1000-jährige Geschichte und nur eine 50-jährige Tradition". Erst nach dem Fall des Kommunismus, langsam, dank immer zahlreicheren Publikationen, Pressefeuilletons sowie Eigenrecherchen der Wrocławer begannen die Mythen und Legenden des alten Wrocław, Wratislavia, Vratislavia erneut einen Platz im Bewusstsein der Einwohner einzunehmen.

Geschichten vom Klößetor, der Büßerinnen-Brücke oder dem Steinernen Kopf domestizieren die Stadt und geben den heutigen Wrocławern das Gefühl einer historischen Kontinuität und Verbundenheit mit alten – nicht nur polnischen Bewohnern der Niederschlesischen Hauptstadt.

Die Geschichte aber verträgt keine Leere, deshalb kompensierten die Neu-Wrocławer rund fünfzig Jahre nach dem Krieg das Fehlen der alten Legenden, indem sie eigene Geschichten schufen. Unheimliche Sagen von einer unterirdischen Stadt, Zwergen, oder Exzentrikern, die durch die Straßen Wrocław irren. Sie haben sich im Kollektivbewusstsein fest eingeprägt und gestalteten auf diese Weise die städtische Mythologie.

Wir laden Sie zu einer Reise ein, auf den Spuren der ältesten Volkssagen, Sensationen aus der alten sowie der jüngsten Zeit, mehr oder weniger wahren Erzählungen, die mit der Hauptstadt von Niederschlesien in Verbindung stehen. Es sind Mythen und Legenden, deshalb werden wir uns nicht allzu sehr um den Wahrheitsgehalt kümmern...

Dauer der Route: ca. 3h.

Das Projekt wird vom Büro für Sport, Touristik und Erholung der Stadtverwaltung Wrocław durchgeführt (Biuro Sportu, Turystyki i Rekreacji UM Wrocławia). Vorbereitung der Route: Jacek Ratajczak Fotos: Bartosz Mazurkiewicz

Unsere Wanderung beginnt an einem Ort, an dem die meisten Touristen ihr Abenteuer mit Wrocław beginnen – am Hauptbahnhof:

Beginn der Route:

1. Hauptbahnhof (Dworzec Główny PKP, ul. J. Piłsudskiego 105)

Der Bahnhof entstand in den Jahren 1855-57. Das von Wilhelm Grapow entworfene Gebäude kennzeichnet eine einmalige, neugotische Architektur in Anlehnung an den englischen Tudorstil. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung gehörte er zu den größten Bahnhofsgebäuden in Deutschland. Heute kann er auf die längste, über 200-Meter lange Bahnhofshalle in Polen mit durchbrochener Glas-Eisen-Konstruktion stolz sein. Am Anfang lohnt es sich, den Bahnsteig Nr. 3 zu besuchen, wo sich eine Gedenktafel für Zbigniew Cybulski befindet, ein Schauspieler, der an dieser Stelle tödlich verunglückte, als er in einen abfahrenden Zug einzusteigen versuchte, und der für mehrere Generationen Wrocławer zur Legende wurde. Die Reste des Zivilschutzbunkers unter dem Bahnhofsgebäude sind heute teilweise zugänglich und als Handelsfläche genutzt. Man geht durch den Tunnel, der mit der Treppe in der Haupthalle beginnt (an der linken Seite, wenn man vom Eingang schaut), einige zig Meter und kommt in der Mitte des Platzes vor dem Bahnhofsgebäude raus. Die restlichen Gänge bleiben unentdeckt – angeblich stehen sie unter Wasser, wurden gesprengt oder zugeschüttet. Während des 2. Weltkriegs sollte sich außerdem unter dem Bahnhof angeblich ein Krankenhaus befunden haben, sogar mit fünf Etagen. Eine andere Geschichte erzählt von einer U-Bahnstation und von einer unterirdischen Bahn. Die Bahn führte angeblich unterhalb von Breslau von Bracke bis hin nach Kosel und Masselwitz, die untypischen - aufgrund der Konstruktion - Luftschutzkeller (ul. Ładna, ul. Żelazna, pl. Strzegomski und ul. Ołbińska) dienten dabei als Eingänge in die Bahnhöfe und Knotenpunkte der Bahn. Zahlreiche Erzählungen ranken sich auch um die Züge, die vom unterirdischen Bahnhof die kostbare Fracht abgeholt haben. Von der Geheimwaffe der Nazis, über das Gold der Breslauer Bürger bis hin zum Bernsteinzimmer. Den spektakulärsten Geschichten zufolge sollte ihre Endstation in dem riesigen System der unterirdischen Gänge (das tatsächlich existiert und teilweise zugänglich ist) im Eulengebirge, dem sog. „Riesen“ liegen.

Die Infrastruktur: in der Bahnhofshalle finden wir im Prinzip alles, was wir brauchen – vom Restaurant und Fast Food, über Toiletten und Geldautomaten, bis hin zu Souvenirläden. Es gibt dort eine 24-Stunden-Wechselstube sowie, was auch sehr wichtig ist, Gepäckaufbewahrung. Im Bahnhof befindet sich auch ein Fundbüro der PKP, Tel. 717-52-17 oder 717-53-28, geöffnet zwischen 7.00 bis 14.30 Uhr.

Vom Hauptbahnhof gehen wir geradeaus auf die ul. Kołłątaja und bleiben auf dieser Straße bis wir einen stattlichen Hügel mit repräsentativen Terrassen und imposanter Säulenfront erreicht haben. Bei gutem Wetter kann man hier auf der Terrasse des Restaurants etwas essen (Dauer des Spaziergangs ca. 10 min, die Strecke kann auch mit der Straßenbahn bewältigt werden).

2. Der Partisanenhügel

Gerade mit diesem Bereich verbindet sich eine interessante, denn völlig ahistorische Geschichte. Denn der Hügel sollte angeblich mittels eines Tunnels unter dem Graben mit dem Gebäude in der ul. Podwale verbunden sein, in dem sich das deutsche Konsulat befindet. Das Konsulat entstand allerdings erst nach dem 2. Weltkrieg, die Baumeister dieses Tunnels müssten also – neben ihren Kunstfertigkeiten – auch über außergewöhnliche Kenntnisse im Vorhersagen der Zukunft verfügen!

Vom Hügel begeben wir uns in die ul. Teatralna

3. Zwergenbrunnen (pl. Teatralny 4)

Obwohl Zwerge nicht zum traditionellen Personal der Wrocławer Mythologie gehören, haben die Einwohner ihre Anwesenheit relativ schnell akzeptiert und sich mit ihnen angefreundet. Der Zwergen-Chronik zufolge stammen die Namen der Stadtteile in der niederschlesischen Hauptstadt von den sympathischen Wichteln (z.B. Krzyki von Krzyk), die Wrocławer Zwerge unterscheiden sich dabei von ihren Cousins aus anderen Städten dadurch, dass sie im Durchschnitt einen Zentimeter größer... und braver sind.

Wir gehen weiter geradeaus und erreichen die Kreuzung mit der ul. Świdnicka, wo an der Ecke das Hotel Monopol steht (wir brauchen dafür ca. 3 Minuten).

4. Hotel Monopol (ul. Modrzejewskiej 2/ul. Świdnicka 33)

Das 1892 im Stil des Art Nouveau erbaute Hotel ist selbst eine Legende. Dort übernachteten wohl die meisten berühmten Persönlichkeiten, die Wrocław besucht haben. Über viele von ihnen kursieren Legenden, über die man noch bis vor kurzem das Personal fragen konnte, das dort seit Jahren kontinuierlich arbeitet. Unter den am meisten erwähnten Gästen von Monopol war Adolf Hitler, es ist allerdings in den Quellen umstritten, ob er dort tatsächlich wohnte. Gewiss ist jedoch, dass seiner Laune wegen im Jahr 1937 an dem Gebäude ein Portikus mit Balkon über dem Haupteingang errichtet wurde, damit der Führer und Kanzler des Dritten Reiches von dort seine Reden halten könnte. Im Jahr 1948 besuchte den während der Ausstellung über die wieder gewonnenen Gebiete veranstalteten Weltkongress der Intellektuellen zur Verteidigung des Friedens, eine große Propagandaveranstaltung über die Errungenschaften des kommunistischen Regimes beim Wiederaufbau der nach dem 2. Weltkrieg an Polen angegliederten Gebiete, unter anderem Pablo Picasso. Er übernachtete natürlich im Monopol. Angeblich verteilte er damals in der Hotelbar „Friedenstauben“, die er selbst gezeichnet hat. Die beschenkten Gäste dachten schon, dass sie im Besitz von wertvollen Kunstwerken gekommen sind, dabei hat der scherzhafte Künstler die Tauben mit sympathetischen Tinte angefertigt. Auch wurde in diesem Hotel eine Szene des Films „Asche und Diamant“ von Andrzej Wajda aufgenommen, in der Zbyszek Cybulski Gläser mit Wodka anzündet – eines der berühmtesten Bilder des polnischen Kinos.

Vom Hotel Monopol gehen wir geradeaus über die ul. Świdnicka, durch die Unterführung (wir brauchen dafür ca. 3 Minuten), und sehen rechts:

5. das Denkmal der Orangenen Alternative (neben der Unterführung auf der ul. Świdnicka)

Der sympathische Zwerg erinnert an den Ort, an dem die größten Happenings der originellsten Oppositionsbewegung in den kommunistischen Ländern stattgefunden haben. Während in Danzig „Solidarność" ernsthaft gegen das kommunistische Regime kämpfte, hat in Wrocław die Orangene Alternative versucht, das System mit Humor zu bekämpfen. Die "New York Times" schrieb einst, dass Solschenizyn den Kommunismus moralisch vernichtete, Kołakowski philosophisch und die Orangene Alternative ästhetisch. Als eine der bekanntesten Aktionen der Bewegung, deren Anführer Waldemar „Major" Frydrych war, gilt der „Tag der Heiligen Nikoläuse" am 6. Dezember 1987, als die verdutzten Milizfunktionäre mehrere Dutzend Protestierte festgenommen haben... Dieser Tag machte die Gruppe auf der ganzen Welt berühmt, denn von der Verhaftung der Nikoläuse haben alle wichtigen Medien weltweit sehr eifrig berichtet. Es war nur eine der seit 1986 regelmäßig veranstalteten unkonventionellen Aktionen, an denen – unter anderem – Defizitwaren wie Toilettenpapier oder Damenbinden verteilt wurden. Das Symbol der Bewegung waren Zwerge, die die Aktivisten überall dort hin malten, wo das Regime die regierungsgegnerischen Parolen übermalt hatte.

Von der ul. Świdnicka biegen wir links in die ul. Ofiar Oświęcimskich ab und erreichen den pl. Solny. In seiner nördlichen Häuserflucht macht sich das renovierte, modernistische Gebäude bemerkbar, in dem sich heute der Sitz der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza" befindet und früher die „Mohren-Apotheke " (Zeit: 5 Minuten).

6. Der kleine „Mohr“ auf dem Gebäude der „Mohren-Apotheke" (pl. Solny 2/3)

Mit der Figur des „Mohren“, die auf dem Gebäude der heutigen „Gazeta Wyborcza" aufgestellt ist, verbindet sich eine der jüngsten „Sensationen“ Wrocławs. Die Skulptur knüpft an die Figur an, die vor dem Krieg die Fassade schmückte und dem Gebäude den Namen gab. Diesmal stellte sich als Modell für den Guss, der von Stanisław Wysocki angefertigt wurde, der bekannte Wrocławer Grafiker Eugeniusz Get- Stankiewicz. Der Guss erwies sich so genau zu sein, dass ein Arzt, der ihn zufällig betrachtete, beim Künstler einen Nabelbruch diagnostizierte, der sich dann bei einer Untersuchung bestätigte und schließlich operativ entfernt wurde. Mit der hier früher existierenden Mohren-Apotheke ist noch eine Geschichte verbunden. Der Ladenbesitzer, Apotheker Jacobus Krause, erbte nämlich nach dem Tod des Doktors Laurentius Scholz im Jahr 1599 zwei Mumien – eine männliche und eine weibliche. Die zweite ist bis heute im Anthropologischen Museum in der ul. Kuźnicza 35 erhalten geblieben, die andere wiederum hat der Apotheker obduziert. Die Nachricht davon verbreitete sich unter den Kunden der Apotheke, die untereinander plauderten, dass der Apotheker, um seine Medikamente wirkungsvoller zu machen, den pulverisierten Körper der Mumie in seine Mittel mischte.

Vom „Mohren“ können wir uns entlang der ul. Kiełbaśnicza oder über den Rynek nach Norden begeben, Richtung Elisabethkirche und den beiden daneben stehenden Altaristenhäuser, Überbleibsel der Gebäude für das Kirchenpersonal, die einst die Kirche umgaben. Genannt werden sie Hänsel und Gretel ( Jaś i Małgosia). Hänsel (kleines, weißes Haus), beherbergt die Werkstatt vom schon erwähnten Get-Stankiewicz – Grafiker und Bildhauer, dem bekanntesten Wrocławer Künstler und lebendigem Symbol der Stadt. Interessant ist die Tatsache, dass er außergewöhnlich bunte Kompositionen gestaltet und dabei farbenblind ist. Mit diesem Künstler sind auch andere moderne Legenden verbunden, etwa über den von ihm in den 70er Jahren angefertigten Bronzeguss eines Vogels, den er in einer der Wrocławer Eichen versteckte. Diesen Guss vermachte er der Niederschlesischen Gesellschaft zur Förderung der Schönen Künste (Dolnośląskie Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych), ihre Mitglieder mussten ihn allerdings erst finden (Zeit: 5 Minuten). Am Haus des Kupferstechers befindet sich außerdem eine Tafel mit Information über das dort untergebrachte Museum der Zwerge und gleich daneben der Eingang in ihren unterirdischen Staat, bewacht von einem einnickenden Zwergenwächter.